Sunday 2 May 2010

Vom Suchen und Finden

Es gibt einen Satz in Auf der anderen Seite, der so wahr ist, daß es wehtut. „Auf einmal vermisse ich Deutschland“, sagt ein deutscher Buchhändler in Istanbul, „und auch die Sprache, obwohl ich natürlich von der hier umgeben bin, die ganze Literatur… Aber das ist wie ein Museum hier. Tot. Wie Latein. Und ich habe einfach Heimweh.“ Wie Latein: das Sprachgefühl schwindet. Was früher leicht über die Lippen kam, klingt künstlich, fremd. Man wird der Muttersprache, so Theodor Adorno, „enteignet“.

Auf der anderen Seite, der neueste Film Fatih Akins, ist voller solcher Augenblicke, die zugleich schmerzvoll und befreiend wirken. Akin verwebt die Geschichten von sechs Menschen in zwei Ländern und drei Sprachen. Ali Aksu (Tuncel Kurtiz) ist ein türkischstämmiger Rentner in Bremen, der aus Einsamkeit die ebenfalls türkische Prostituierte Yeter (Nursel Köse) dazu überredet, bei ihm einzuziehen. Nach einem traumatischen Vorfall macht sich Alis Sohn, der Germanistikprofessor Nejat (Baki Davrak), auf den Weg in die Türkei, um dort Yeters ihr entfremdete Tochter Ayten (Nurgül Yeşilçay) zu suchen. Die aber ist schon wegen ihrer Mitgliedschaft in einer linksradikalen Organisation nach Deutschland geflohen, wo sie die gleichaltrige Studentin Lotte (Patryicia Ziółkowska) kennenlernt. Deren Mutter (Hanna Schygulla) ist alles andere als begeistert von dieser Beziehung und kann nicht nachvollziehen, daß Lotte Ayten nach der Abweisung ihres Asylantrags in die Türkei folgt.

Damit ist kaum die erste Hälfte des Films erzählt, denn die Handlung ist durchaus komplex. Die Länge von 122 Minuten zeugt daher von der Selbstdisziplin des Regisseurs, der es versteht, ein vielschichtiges und kopflastiges Werk relativ leicht und schlank zugleich zu gestalten. Zu Recht ist bemerkt worden, Auf der anderen Seite fließe vor Themen über; dank Fatih Akins Können ist das aber für den Film nur von Vorteil. Er wird so zum reichen Gesamtkunstwerk, das zum Denken anregt und den Zuschauer auch nach Ende der Vorstellung nicht verläßt. Akin erzählt von Heimat und Fremde, dem merkwürdigen Gefühl, an einem Ort zu Hause zu sein. Warum behält Ali nach Jahrzehnten in Deutschland seine türkische Staatsbürgerschaft? Was zieht die Figuren von einem Ort zum anderen? Und es geht um den Tod, die größte Reise von allen – vor allem aber darum, wie die Hinterbliebenen mit ihrem Verlust umgehen: Fatih Akin, der Humanist, glaubt fest an ein Leben vor dem Tode.


Bei sechs Hauptfiguren verwundert es nicht, daß Akin dem einzelnen nur wenig Zeit opfern kann. Also müssen die Schauspieler aus wenig viel machen, und das Ergebnis ist phänomenal. Akin legt seinen Darstellern aus gutem Grund den Film zu Füßen. Aber selbst unter allerseits großartigen Schauspielleistungen sind Hanna Schygulla und Baki Davrak hervorzuheben. Schygulla verkörpert die Entwicklung ihres Charakters mit großer Sensibilität, und vermag durchweg zu überzeugen. Bei einer so erfahrenen Schauspielerin ist das aber kaum eine Überraschung, und Akins wahre Entdeckung ist damit Baki Davrak. Er verkörpert Nejat Aksu als zweifelnden, manchmal zornigen, suchenden Menschen, der lernen muß, aus dem Schatten seines Vaters zu treten, ohne diesen ganz zu verwerfen. Kaum mag man glauben, daß dieser phantastische Schauspieler sich einmal als Parkwächter durchschlagen mußte. Die Szenen, die Davrak und Schygulla sich teilen, gehören darum zu den Höhepunkten eines schon reichen Films.
Mit Auf der anderen Seite ist Fatih Akin, dem türkischstämmigen Deutschen, ein Meisterwerk über Heimat und Fremde, Liebe und Tod gelungen. Seine Figuren sind Wanderer zwischen beiden Welten, die nach einem Ort der Ruhe suchen. Alle Menschen sind dabei gleich: fast paradox mutet es an, dass die Unterschiede zwischen Deutschen und Türken gerade in einem Film über die Wichtigkeit der Heimat verschwimmen. Ohne Pathos gelingt dem Regisseur so ein Kaleidoskop des Suchens und Findens, eine ruhige, reife Erzählung, eine Geschichte, die traurig und nachdenklich stimmt – und hoffnungsvoll.

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